Wormser Zeitung. Nathan der Weise in Worms | 29.03.2017

Nathan der Weise neu bearbeitet in Worms: Beschwörende Absage an Gewalt aktueller denn je

Alle Schauspieler halten sich während des Stücks am Bühnenrand auf. Foto: photoagenten/Alessandro Balzarin

Von Ulrike Schäfer
WORMS – Man möchte viele Sätze aus „Nathan der Weise“ in Gold fassen, so klar, so gültig äußert sich Lessing über das Wesen der Religionen, die ihre Wahrheit allein durch gelebte Menschlichkeit erweisen. So empfand es wohl auch Regisseur Limeik Topchi, der das Stück mit seiner 2013 gegründeten Internationalen Freien Theatergruppe „Unser Theater“ neu inszenierte und es nach der Premiere in Mannheim am Samstag nun auch auf die Bühne des Lincoln-Theaters brachte.

Filmeinspieler vernetzen mit Menschheitsgeschichte


DARUM GEHT’S

Bei seiner Rückkehr von einer Geschäftsreise findet der Jude Nathan sein Haus in Schutt und Asche vor. Die Tochter Recha wurde von einem jungen Tempelritter, dem kurz zuvor Sultan Saladin das Leben geschenkt hatte, aus den Flammen gerettet.

Als Saladin Nathan um Geld bittet, um den Krieg gegen die Ungläubigen zu finanzieren, kommt es zu der Frage, welche der drei Buchreligionen denn die wahre sei, und Nathan antwortet mit der Ringparabel. Problematisch wird die Geschichte, als sich herausstellt, dass Recha ein angenommenes Christenkind ist. Vorurteile und Hass drohen sich zu entladen.

Da entdeckt Nathan, dass Recha und der Tempelritter Geschwister sind, Kinder des verstorbenen Bruders Saladins. So spiegelt sich denn die Verwandtschaft der abrahamitischen Religionen – etwas sehr konstruiert – auch in familiärer Verwandtschaft wider.


Das Auffallendste an dieser Neubearbeitung von Lessings Ideendrama durch den Schriftsteller Klaus Servene sind die Filmeinspieler (Tatiana und Artem Gratchev). Sie vernetzen das Stück, das zur Zeit der Kreuzzüge in Jerusalem spielt, mit der Menschheitsgeschichte. Schon die erste Sequenz, drei Personengruppen vor einem düsteren Graffito, die mit Geschrei die Welt nach ihren ureigenen Vorstellungen verändern wollen und sich dabei die Köpfe einschlagen, zeigt, wo das Problem liegt. Wie lang wird das Glück über den Waffenstillstand anhalten? Wie ein antiker Chor agiert das Ensemble auch in den weiteren, raffiniert choreografierten Szenen, die sich immer mehr der Gegenwart annähern und Sehnsüchte, Träume und eine endgültige, beschwörende Absage an die Gewalt vermitteln.

Dazwischen Lessing, gestrafft, auf wesentliche Gedanken zugespitzt. Die Geschichte wird von Limeik Topchi in klaren Bildern umgesetzt. Alle Schauspieler sitzen während des ganzen Stücks am Bühnenrand, sind Anwesende, halb verborgen von Mauern. Hervor treten immer nur die, die mit ihrem Spiel an der Reihe sind. Drei künstlerisch bemalte Paravents (Prof. Dr. Spartak Paskalevski), die sich zu unterschiedlichen Bildern zusammensetzen lassen, bilden die Kulissen. Die märchenhaften Fantasiekostüme (Dzavada Christ) ermöglichen eine Zuordnung zu den Religionen, aber sie deuten auch Zwischenformen und Veränderungen an.

Dass die Hauptrollen Nathan und Sultan Saladin von Frauen gespielt werden, irritiert auf den ersten Blick, doch Monika Loser und Brigitta Martin verleihen ihren Rollen so viel Ernst und respektgebietende Würde, dass man schnell in ihren Bann gezogen wird. Ihnen zur Seite steht Daja (Annette Hammerstein), die überschwängliche, aber ambivalente Gesellschafterin Rechas, und Saladins kluge Schwester Sittah (Larissa Fritsch). Als ungebärdiger Tempelritter liefert sich Leo Kawe mit dem kriecherischen Klosterbruder (Klaus Becker) ein hinreißendes Duell. Die noch sehr kindliche Nathan-Tochter Recha (Betül-Bengü Soyupak) muss erst mit den Fäusten auf den Boden trommeln, bis sie seine Aufmerksamkeit erringen kann. Hübsch ist die Idee, die Rolle des doppelgesichtigen Derwischs Al-Hafi (Beate Gerbil und Eli Elfeky) auf zwei Personen zu verteilen. Neu eingeführt, wenn auch nicht unbedingt nachvollziehbar, ist die Rolle der ermordeten Ehefrau Nathans (Mariana Arnaudova), die ihren Mann beim Erdenken und Erzählen der Ringparabel mit tänzerischem Gestus inspiriert. Einer der Höhepunkte dieser starken Inszenierung: Der Mannheimer Schauspieler Dirk Mühlbach spielt den „herzlosen“ Jerusalemer Patriarchen. Herzlos in doppeltem Sinn, denn der Künstler wartet schon seit Jahren auf ein Spenderherz und lebt mit einem Kunstherzsystem, das er am Gürtel trägt.

Zum Schluss tanzen alle, die Mauern fallen, die bunte Kulisse formt sich zu einem Gesicht, in dem sich die Symbole aller drei Religionen vereinen, und der junge Eli Elfeky tritt vor und verkündet unter Beifall die Vision eines immerwährenden Friedens unter den Menschen.

 

© Wormser Zeitung. 29.03.2017